Donnerstag, 17. Januar 2013

Off Topic - Eine kleine Geschichte von der Arbeit im Knast

Ein äußerst geschätzter Bekannter gab mir vor einiger Zeit mal den persönlichen Rat, meine "schriftstellerischen" Ambitionen auszuleben, indem ich autobiographische und fiktive - jedoch von realen Erfahrungen getragene - Geschichten und Anekdoten aus meinem Arbeitsalltag als Gruppenbetreuer und Gruppenleiter - Vertreter in der größten deutschen Anstalt des geschlossenen Männer - Strafvollzuges auf virtuelles Papier bringe.
Er hat dabei sehr freundliche Dinge über meinen Schreibstil und die Art meiner mündlichen Berichte aus meinem Arbeitsalltag geäußert und sich auch ansonsten einige Mühe gemacht, mir seine Gedanken dazu nahe zu bringen. Natürlich blieb ich gegenüber solcher Freundlichkeit nicht unberührt und fühlte mich nur wenige Tage später tatsächlich mit einer dieser typischen "Knastgeschichten" konfrontiert, dir mir eine kleine Geschichte wert zu sein schienen. Es ist bislang die einzige geblieben aber ich bin ziemlich sicher, das weitere folgen werden.
Um mal ein bis zwei weitere Meinungen einzuholen, habe ich beschlossen, sie hier zu veröffentlichen.
Zur Warnung für die Golf affinen Leser und zur Beruhigung derjenigen, die es nicht sind, das Folgende hat nichts mit Golf zu tun! :-)
                                                                          Jede gute Tat...

Nun bin ich also mal wieder der Neue. Der neue "Sozi", der, den man erst einmal austesten muss. Was bei dem wohl so geht? Bedarf ist ja immer.
Im Haus bereits bekannt, schließlich habe ich nur die Station gewechselt, leide ich in dieser Situation unter meinem guten Ruf. Der Fluch der guten Tat - ich gelte als einer, der sich um seine Klienten kümmert, der sich auch dann noch Zeit nimmt und sein Helfersyndrom auslebt, wenn alle Anderen bereits vernünftiger Weise abgewunken haben.

Da sitzt er schon vor mir. Drogenabhängig, verhärmt, traurig guckend. Wahrscheinlich alle Krankheiten, die es gibt. Er spricht leise. Sein Deutsch leicht verwaschen, fehlerhaft, obwohl er schon seit Jahrzehnten in Deutschland lebt. Aber da, wo er herkommt, sprechen eben nicht einmal die richtigen Deutschen richtig deutsch. Lesen und Schreiben kann er auch nicht. Was für eine Wurst. Da ist sie wieder, diese unprofessionelle Betroffenheit, völlig fehl am Platz. Bloß nichts anmerken lassen.

"Scheff, isch geh´ doch in paar Tagen nach Hause. Isch hab gahnix mehr. Können sie nisch mal beim Pfarrer anrufen weng Tabak? Escht Chef, isch hab ehrlisch keene einzije Drehung mehr". Vom Proll - Türkdeutsch wechselt er fließend in den Berliner Dialekt. Immerhin.

Tabak. Danach hat mich in der Tat schon lange niemand mehr gefragt. Ich merke deutlich, dass ich auf der Drogenstation angekommen bin. Für Tabak bin ich auch nicht wirklich zuständig. Andererseits, wer macht es denn sonst? Wer ist denn hier der "Sozi"? Eben.
Früher war das einfach. Als Pater Winzig noch da war, das Maschinengewehr Gottes. "Zwei Dinge braucht ihr für euren Dienst im Knast“, schnarrte er auf jeder Weihnachtsfeier, in jeder Talkshow, der kleine Mann. „Eine unverbogene Seelenachse und ein positives Verhältnis zur Waffe!"
Er stellte in der Vorweihnachtszeit immer einen riesigen Karton mit allerlei Leckereien auf die Wartebank vor seinem Katholischen Pfarramt. Darüber klebte in einem Jahr der Zettel des Paters an der Rückenlehne der Bank: "Für Gefangene und Kollegen. Bitte zugreifen. Nicht für Sozis!"
Nicht so schlimm, da war ich ja noch keiner. Da hab ich ja noch nix gemacht, außer Türen auf und zu. Stimmt so auch nicht aber so erklären es uns ja Zeitung, Film und Fernsehen regelmäßig. Dafür war Paterchen ein waschechter, studierter Sozialarbeiter, ehe er Paterchen wurde. Muss wohl eine traumatische Erfahrung für ihn gewesen sein. Nach mittlerweile über einem Jahrzehnt als immerhin „Pseudo - Sozialarbeiter“ - der ewige Vertreter, quasi - fange ich an, ihn zu verstehen. Wie auch immer, ich hätte auch als "Sozi" zugreifen dürfen, ich war ja der "Nachbarjunge". Paterchen kannte mich schon als ich mit ungefähr 2 Jahren draußen an der Mauer vom Knast vorbei getaumelt bin - um meinen Papa vom Dienst abzuholen. Jetzt machen wir also inzwischen auf Familiendynastie...
Wenn ich in der guten/ schlechten alten Zeit vom Pater mal Tabak für irgendeine, verschuldete arme Sau brauchte, wählte ich die Nummer des katholischen Pfarramtes. "Nachbarjunge, für dich immer, komm vorbei, mein Sohn", schnarrte es mir schon entgegen, ehe ich auch nur zu einer Erklärung angesetzt hatte, warum ich mal wieder die Großzügigkeit der heiligen katholischen Kirche gegenüber allen Bedürftigen, insbesondere den armen Sündern, die sie eigentlich gar nicht verdienten, schamlos ausnutzen wollte. Ich kam. Je nach Situation gab es dann ohne viele Worte, außer ein paar warmen zur Begrüßung, ein bis zehn Päckchen Tabak zur Vergabe nach eigenem Ermessen, Blättchen und Einwegfeuerzeuge inklusive. Die guten Zeiten einfacher Lösungen, als Paterchen noch da war, als die katholische Kirche noch Kohle für Pfarrämter in Knästen hatte.

Ich wähle. Diesmal versuche ich es bei den Protestanten. Mildtätigkeit ist ja nicht konfessionsabhängig, außerdem ist der ohnehin Moslem. "Ich hätte hier mal wieder eine arme Seele, Herr Pfarrer. Ob sie uns wohl mit einem Päckchen Tabak aushelfen könnten, damit die letzten paar Tage Knast nicht so arg werden?" Tabak, nee, hat er gerade selbst nicht mehr. Aber wenn man am Kiosk welchen besorgen könnte, mit Quittung, er könnte mir dann das Geld aus seinen Mitteln für Spendentabak zurück geben. Na ja, nun bin ich schon so weit. Also nach der Mittagspause mal eben raus aus der Anstalt - Mist, kein Bargeld dabei und EC - Karte für ein paar Päckchen Tabak? Also kurzer Abstecher nach Hause, gut dass ich es nicht weit habe, und Sohnemann aus der Sparbüchse ein paar Scheine abgezogen im Austausch gegen einen hastig gekritzelten Zettel. "40 Euro von Papa, nicht das Eintreiben vergessen!" Jetzt aber ab zum Kiosk. "Ich brauche vier Päckchen Tabak" - eines mehr als der Pfarrer mir im Telefonat aufgetragen hatte aber die Kollegin an der Zentrale wusste gleich noch einen Bedürftigen und ich entscheide eigenmächtig, die Potenz des evangelischen Tabakfonds gnadenlos auszutesten und meinen Einkauf um ein Päckchen zu erhöhen. Ich entscheide mich für eine Sorte, die es auch schon gab als ich selbst noch Raucher war. Ist immerhin lange genug her, dass es sich komisch anfühlt, Tabak zu kaufen. "Ich bräuchte auch eine Quittung". Der halb verständnislose, halb vorwurfsvolle Blick des vietnamesischen Besitzers macht mich nur etwas betroffen. 4 x 5,75 € tippt er in seine Kasse ein und gibt mir im Anschluss reichlich Zeit, über die unglaubliche Erhöhung der Tabakpreise in den letzten 16 Jahren nachzudenken, während er geduldig und mit zwischen den Lippen eingeklemmter Zunge, Buchstaben für Buchstaben, "DRUM" von dem Tabakpäckchen auf seinen Quittungsblock überträgt. Gut, dass ich nicht "Javaanse Jongens Classic" ausgewählt habe. Ich muss ja Überstunden abbauen.

Zurück in meinem neuen Büro vergeht nicht viel Zeit und mein mittelloser Junkie steht schon wieder vor mir, nur um mal zu fragen, ob der Pfarrer denn wegen seines Tabaks vielleicht noch heute vorbei kommen könnte. Triumphierend greife ich mit überlegenem Lächeln in die Brusttasche meines Freizeithemdes und ziehe ein Päckchen des harmlosesten all seiner Suchtmittel hervor. Er strahlt wie ein kleines Kind, was bin ich doch für ein Held. Schon wieder die Welt gerettet. Zumindest die persönliche dieses schmalen Drogenkonsumenten. Für eine kleine Weile. Immerhin, in diesem Beruf muss man die kleinen Erfolge schätzen lernen. Lässig werfe ich ihm den Tabak zu, er fängt ihn beinahe, klaubt ihn aber anschließend, kritiklos und immer noch idiotisch lächelnd, vom Boden auf. "Scheff, ehrlich, sie ham mein Leben jerettet, das werde ich ihnen nie vergessen, echt. Ich sage auch keinem was davon, gar keinem, versprochen."

Am nächsten Tag steht er wieder vor mir. "Meister, danke noch mal für den Tabak gestern. Das war echt total nett von ihnen. Das vergesse ich ihnen nicht. Habe auch gleich noch ein paar Anderen davon abgegeben. Jetzt habe ich nicht mal mehr gerade so 6 Drehungen, ehrlich. Meinen sie, der Pfarrer hat noch mal was für mich?"
Jetzt werde ich streng.
"Ich habe ihnen doch gestern schon gesagt, dass der Pfarrer nichts mehr hatte. Das müssen sie sich besser einteilen. Von mir aus können wir nächste Woche noch mal anfragen aber machen sie sich keine großen Hoffnungen. Über das Wochenende müssen sie dann jetzt eben sparen - oder die anderen geben mal ihnen etwas ab. Alles klar?" "Ja. Scheff, meinen sie, der Pfarrer könnte wegen Tabak vielleicht morgen noch mal vorbei kommen?" Erstaunlich, diese Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung.
Der nächste Tag, Freitag, derselbe Gefangene. "Isch wollte mal fragen, meinen se, der Pfarrer könnt heute noch mal vorbei kommen - wegen meim Tabak?" Meinem Tabak. Klar, der Pfarrer verwahrt ihn ja nur für ihn. Mein Gesicht verzieht sich zu einer Mischgrimasse aus Ärger, Unglauben und Verzweiflung. Es gelingt mir, ihn noch einmal auf die nächste Woche zu verweisen. Er sieht schon nicht mehr ganz so dankbar aus. Die Halbwertzeit eines "Lebensretters" im Knast ist kürzer als die durchschnittliche Drogenabstinenzphase des Probanden, wenn er es mal wieder "voll durchzieht" mit dem Urinkontroll - Programm.
Feierabend. Im Gehen spricht mich ausgerechnet ein Gefangener an, mit dem ich seit Tagen erheblichen Ärger wegen - aber das ist eine andere Geschichte. "Meister, ich hätte noch eine ganz kurze, sehr wichtige Frage." Ich ziehe eine Augenbraue hoch und deute mit dem Kopf auf den Rucksack in meiner Hand. Er nickt verstehend. "Chef, ich habe wegen meiner Einkaufssperre überhaupt keinen Tabak mehr - und sie haben Sozialtabak, habe ich gehört." Ich mache deutlich, dass ich garantiert keinen Sozialtabak habe, er glaubt mir nicht, ich flüchte ins Wochenende.

Montag. Ich sitze im Beamtenbüro meiner früheren Station, diejenige, für die ich noch vor wenigen Tagen der "Sozi" war. Diejenige, für die ich aktuell als Urlaubsvertreter trotzdem noch zuständig bin. Ich bespreche einen Fall mit den Kollegen vor Ort und tippe nebenbei einen Vermerk auf dem Computer. Ich muss gleich noch runter in die Verwaltung, unser als Urlaubsvertretung zuständiger Teilanstaltsleiter kommt gleich mal für einen Moment aus seiner Stammanstalt herüber, um die notwendigen Dinge zu unterschreiben. Er muss meinen Vermerk unterschreiben.
Ein für seine geringe Lebensleistung im Verhältnis zu seinem Lebensalter unfassbar arroganter Bajuware betritt ungefragt und ohne anzuklopfen, in der ihm eigenen Anspruchshaltung das Büro. Schließlich hat er mich durch die Glastür gesehen. Ich bin also da, ergo habe ich für ihn da zu sein. "Herr Sozi, sie wissen doch, ich habe letzten Monat keinen Einkauf bekommen. Ich habe überhaupt nichts mehr zu rauchen und sie haben doch hier im Haus den Sozialtabak".
Wenn sich doch nur die Hausordnung in einem ähnlichen Tempo herum sprechen würde, wie die Gerüchte, wo es etwas abzugreifen gibt. Ich versichere ihm, dass er einer Fehlinformation aufgesessen sei, natürlich glaubt er mir nicht und wähnt mich wieder einmal auf meinem persönlichen Kreuzzug gegen ihn, der sich aus meinem unendlichen Quell reiner Boshaftigkeit speist. Gebrabbel und Schimpfworte, nicht verständlich, jedoch in einer entfernt an die deutsche Sprache erinnernden Klangfarbe. Er entfernt sich und wurde in seiner fundierten Meinung über den Sozialdienst wieder einmal nachhaltig bestätigt.

Nachdem der Ersatz - Chef meinen Vermerk tatsächlich klaglos unterschrieben hat, begebe ich mich auf meine neue Station. Nachmittags kommt wieder mein Junkie vorbei. Es ist ja schließlich nächste Woche und er will wegen seines Tabaks fragen. Ich beschimpfe ihn ein bisschen und schildere ihm wortreich, welchen Ansprüchen seiner Mitinhaftierten ich mich seit dem Ende der vergangenen Woche ausgesetzt sehe, nur weil er seine Klappe nicht halten konnte und unser schmutziges kleines Geheimnis im Haus öffentlich machte. Er zeigt keinerlei Verständnis für meine Nöte und streitet vehement ab, irgendwem auch nur ein Sterbenswörtchen von meiner Heldentat verraten zu haben. Hat sich ja auch vermutlich niemand dafür interessiert, warum der kleine Junkie plötzlich großzügig Drehungen an seine Mitjunkies verteilen konnte. Nee, der hat garantiert voll dicht gehalten, er fühlt sich seinem Retter ja so verpflichtet. Da haben bestimmt wieder all diese korrupten Beamten geplaudert...

Beim ersten Mal werde ich ihn noch in bestimmter Weise los und teile ihm unmissverständlich mit, dass er sich bei Tabakbedarf gefälligst selbst mit einem Antrag an das Pfarramt wenden könne. Ich erkläre mich für unzuständig. Als er nach ein paar Stunden am späten Nachmittag wiederkommt und als wäre nichts passiert fragt, ob ich nicht den Pfarrer mal wegen Tabaks anrufen könnte, will ich ihn nur noch los werden, mir ist alles recht. Ich will aber den Pfarrer nicht schon wieder anbetteln, ist mir unangenehm. Als wäre der Tabak für mich. Also schreibe ich eine E-Mail. Super Technik. Kommt genauso schnell an, wie ein Anruf aber mit viel weniger Diskussion. Ich schreibe also wahrheitsgemäß, dass mein Bedürftiger ein wenig verschwenderisch mit seinem Lebenselixier umgegangen ist und weiteren Bedarf erkannt hat. Ich teile selbigem mit, dass der Pfarrer sich - sobald er die Nachricht gelesen haben wird und sofern er noch über eine Notreserve für Raucher auf Entzug verfügt - demnächst bei ihm melden wird. Auf die Nachfrage, "Meinen sie, dass der Pfarrer heute noch kommen kann?", zucke ich nur noch mit den Schultern und widme mich demonstrativ dem neuen Vermerk, an dem ich schreibe. "Na ja, wird ja sowieso mal wieder nicht klappen", brabbelt der angesäuerte Schutzbefohlene in seinen nicht vorhandenen Bart. Nun sehe ich doch auf. "Wieso? Hat ja wohl beim letzten Mal auch gut geklappt, oder?" Er bläst in einem verächtlichen Tonfall Luft durch die Nase in mein Büro und ätzt: "Beim letzten Mal hat es ja auch geklappt. Na da sage ich mal lieber nichts mehr dazu." Und in einem Tonfall, der seine ganze Verachtung für abgestumpfte, für die Sorgen der ihnen Anvertrauten blinde und taube "Sozis" unmissverständlich zum Ausdruck bringt, verlässt er mein Büro mit einem "Danke trotzdem, schönen Feierabend."
Meine letzte Amtshandlung für heute besteht darin, im Gehen einen Zettel an die Glastür vor meinem Büro anzubringen:

"Egal was Sie gehört haben - ich habe keinen Tabak. Bitte wenden Sie sich ans Pfarramt."

Jede gute Tat wird bestraft...